ERSCHEINUNG - BLICK, GANG, AUGE

ESSAY VON EVA SICHELSCHMIDT 2018

Das Ding-Gedicht ist die Skulptur des Dichters. Bei dieser speziellen Spielart der Formfindung geht es nicht um Überhöhung, Aneignungoder Deutung, sondern um höchste Einfühlung bei gleichzeitigerDistanz - um reine Wahrnehmungsakrobatik.

Der Künstler will das Ding mit seinen Sinnen erfassen. In derAbformung versucht er festzuhalten, was das Auge nicht zu haltenvermag. Das Ziel ist nicht die Spiegelung oder eine Kopie, sondern dieDurchdringung der Eigenschaften des Dings, seiner Besonderheit undEinzigartigkeit. Und das mit Hilfe der Materie. Beim Dichter sind esdie Worte, beim Bildhauer sind es Gips, Lehm, Bronze, Holz oderPappmaché.

Das Material ist die Sprache des Bildhauers. Er verwandelt in seinemInneren die Wahrnehmung zur Form, die er mit Händen und Werkzeug neu erschafft, abstrakt oder figürlich naturgetreu.

Die Plastik ist ein Nachhall von Erlebnissen. Der Bezug des Künstlerszum Ding, seine persönlichen Erfahrungen und Begegnungen, die Anziehungskraft oder Aversion, die er bei der Beobachtung des Gegenstands verspürt, werden Teil der Formgebung.
Das Spannungsfeld liegt in der Sichtweise des Künstlers und seinerpersönlichen Spur, die er auf dem Ding sichtbar oder lesbarhinterlässt. Es ist die individuelle Sicht des Schaffenden, in Kombination mit der gewählten Darstellungsgattung, die eineeinzigartige Abbildung von etwas Realem und damit etwas ganzNeues erschafft: Das Abbild wird zum Bild seiner Wirklichkeit.

Das Tier ein Ding zu nennen, ist eine Gemeinheit aus dem letztenJahrhundert. Zu Beginn der Zwanzigerjahre ist der Panther noch ein Ding, nicht nur in Frankreich. Einer, ein ganz besonderer, wird herzlosausgestellt in einem viel zu kleinen Käfig, innerhalb einer Parkanlage,mitten in Paris. Der Panther ist ein bewegter Gegenstand, den manaufgrund seiner Fremdheit durch die Gitterstäbe hindurch bestaunt.Sein unbekanntes Wesen, die Exotik, die Fremdheit seiner Herkunft, das Wilde sind eine Projektion des Betrachters. Ein bekannter Dichterdieser Zeit hält die äußere Erscheinung des Panthers, sein Schicksaldes Eingesperrtseins fest und gibt ihm einen Gefühlsausdruck. In demGedicht von Rainer Maria Rilke wird der Panther, ausgerechnet einTier, zu einem der beseeltesten Dinge der deutschsprachigenDichtung.

Zehn Jahre nach Entstehung dieses Gedichts, am Anfang des ersten Weltkrieges begegnet Rilke in den Berliner Secession den ersten Skulpturen der Renée Sintenis. Die anmutigen, zu der Zeit nochgeometrischen, possierlichen Jungtiere im Taschenformat haben esihm angetan. Er vermittelt dann aber keine der Tierskulpturen,sondern ein ursprünglich unverkäufliches Selbstbildnis der Künstlerinan einen Sammler. Es ist der erste kommerzielle Erfolg der jungenBildhauerin. Die vierstellige Summe ist für sie ein Befreiungsschlag.Sie kauft sich ein Bett. In diesem Bett kann sie schlafen, es wird zurWiege ihres Markenzeichens, der typischen Tierskulptur. Dieter Finke war der letzte Meisterschüler von Renèe Sintenis.
Aus den schlafenden Rehen, spielenden Hunde und muntergaloppierenden Pferde werden bei Dieter Finke Leguane,Höllenhunde, Bussarde, Adler, Kormorane, Eulen, Echsen, Krokodileund Tiger - keine anschmiegsamen Tiere, keine zarten Begleiter desMenschen. Es sind unabhängige, eigenständige Kreaturen. Er erfasstsie im Schreiten, im Wenden des Kopfes und immer wieder imInnehalten. Man meint den Widerstand ihrer Muskeln zu erkennen.Durch die unterschiedlichen Gefiederarten und über dieReptilienhaut rauscht der Wind.

Finkes Tiere sind nicht jung, nicht anschmiegsam, sie sträuben sichdagegen, eine Projektionsfläche menschlicher Emotionen zu sein.Sie sind sparsam komponiert, auf wesentliche Merkmale reduziert, haben aber genau jene Attribute, die es braucht um die perfekteIllusion der naturgegebenen Form zu erzeugen. Seine Lösung ist dieTechnik der Aussparung. Die Tierkörper werden buchstäblichdurchlöchert – Volumen die in der Luft zu schweben scheinen. Soentstehen Bronzen, die trotz ihrer Schwere federleicht wirken.

Dieter Finke schafft im Laufe seines Lebens geometrische Acrylglasarbeiten, wie auch architektonisch geprägte großformatigeÖlbilder, Zeichnungen und abstrakte Skulpturen. Die Bandbreiteseines Schaffens kennt keine Begrenzung. Und doch, so wie er seinekünstlerische Arbeit mit dem Tier beginnt, schließt sich am Endeseines Lebens mit ihm wieder der Reigen. Nach der Hinwendung zurLandschaft, in die Ebenen der Malerei und in die Abstraktion, kommter schließlich zu wieder auf die Tierbildnisse zurück.

Auch der Panther kehrt in Dieter Finkes Arbeiten wieder, gleichmehrfach. Das Raubtier wirkt wie ein Sinnbild, wie die Essenz allseiner variablen, so unterschiedlichen Tierfiguren, die alle etwasgemeinsam haben: Eine unheimliche Präsenz ihrer Wildheit, ihrefaszinierende Eigenständigkeit, ihre menschenferne Unabhängigkeit.
Man sagt, das K.rpergefühl des Künstlers übertr.gt sich auf dieSkulptur. So steckt in jedem Tier auch noch der Mensch, der esgeschaffen hat, in ihm bleibt er lebendig.

Dieter Finkes muskelgespannter Panther ist das genaue Gegenteilvon Rilkes beschädigtem Gefangenen. Der Pantherblick ist nichtmüde, er ist in die Ferne gerichtet. Sein Körper folgt instinktiv demFixpunkt hinter dem Horizont, gespannt wie der Pfeil einesunsichtbaren Bogens. Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,dreht sich nicht im Kreis er kennt sein Ziel, und der Wille ist stark,ganz und gar nicht betäubt.

Die Tiere wirken wie weise, gelassene Beobachter einer parallelenWirklichkeit in der künstlichen Natur. Eine große Ruhe liegt in diesenWesen. Wenn sich der Blick seiner Tiere mit dem des Betrachterskreuzt, kehrt sich die Blickrichtung um und Löwe und Leguanübernehmen die Regie. Dann ergeht es dem Betrachter wie demPanther in Paris. Und neben einem Bild geht auch die Erkenntnis inihn hinein: Das Tier sind wir.           


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